PeriGraphien: Europas Ränder – Europas Mitte

Mehrsprachigkeit und eine Vielfalt der Identitätsfacetten gelten als Maßstab für ein europäisches Denken. Eine Kultur, die von eben diesen Phänomenen geprägt war, hatte sich in einzigartiger Weise in den mitteleuropäischen Landschaften herausgebildet, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Shoah verwüstet wurden und die – nach 1945 im Einflussbereich der Sowjetunion – eine gedächtnispolitische Deformation erlebten, die diesen Teil Europas zum „Occident kidnappé“ (Milan Kundera) werden ließ.

Mit der Reihe „PeriGraphien“ haben wir drei herausragende Vertreter einer mitteleuropäischen Kultur vorgestellt, um zum einen den Reichtum dieses literarischen Schaffens vor Augen zu führen und zum anderen dazu anzuregen, das Paradigma „deutsch-polnischer Beziehungen“ über ein Modell gedachter Bilateralität hinaus zu erweitern.

Die drei Gespräche der Reihe widmeten sich Debora Vogel (1900-1942), Itzik Manger (1901-1969) und Arnold Słucki (Aron Krajner, 1920-1972). Leben und Werk dieser Künstler öffnen den Blick für die Rolle der jüdischen Kultur, die „das wesentliche kosmopolitische und integrative Element Zentraleuropas“ darstellte (Milan Kundera) und die sich vor allem durch ein „Ethos der Translation“ auszeichnete (Armin Eidherr).

„Ich will zugleich damit auch sagen, daß nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint.“

Joseph Roth, Die Kapuzinergruft (1938)

Debora VogelItzik MangerArnold Słucki

Debora Vogel

Das erste Gespräche war der Autorin Debora Vogel (1902–1942) gewidmet, die der Arco Verlag im Sommer 2015 mit einer erstmaligen Übersetzung ins Deutsche vorstellte: „Die Geometrie des Verzichts“ (Erscheinungsdatum: August 2015). Debora Vogels Werk markiert eine einzigartige Schnittstelle der Sprachen und Kulturen: Sie promovierte in Krakau über Hegel, schrieb ihre Texte sowohl auf Jiddisch als auch auf Polnisch und nahm an den Diskussionen der New Yorker „Insichisten“ teil, der jiddischsprachigen Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Bislang war Debora Vogel zumeist als „Muse“ von Bruno Schulz bekannt geworden – mit der erstmaligen Publikation ihrer Texte in deutscher Übersetzung kann eine Autorin entdeckt werden, die in faszinierender Weise die Inspirationen mitteleuropäischer Geistesgeschichte literarisch umgesetzt hat.

Die Gesprächspartnerin: Anna Maja Misiak (Bern). Literaturwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin, Autorin des Buches Judit: Gestalt ohne Grenzen (Aisthesis Verlag, 2010). Übersetzerin aus dem Polnischen und dem Jiddischen, Herausgeberin der ersten Edition mit Texten Debora Vogels in deutscher Übersetzung: Die Geometrie des Verzichts (Arco Verlag, 2015).

Itzik Manger

Das zweite Gespräch war Leben und Werk Itzik Mangers gewidmet (1901–1969). Anlass war das Erscheinen der weltweit ersten kritischen Monographie über Manger. „Niemandssprache: Itzik Manger – ein europäischer Dichter“ (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag). Autorin des Buches ist Efrat Gal-Ed, die Übersetzerin der Lyrik Mangers ins Deutsche: Die Beschäftigung mit dem Werk Mangers bietet wichtige Einblicke in das kulturelle Leben in der polnischen Hauptstadt in den Zwischenkriegsjahren. Manger war über Jahre hinweg ständiger Gast unter der legendären Warschauer Adresse „Tłomackie 13“, wo der „Jüdische Schriftsteller- und Journalistenverband“ seinen Sitz hatte.
Mangers Wahl für das Jiddische als Literatursprache stand in engem Zusammenhang mit den seinerzeit lebhaften Diskussionen um eine Neudefinition jüdischer Identität in säkularen Kontexten. Flucht und Exil führten den „Prinzen der jiddischen Ballade“ über Frankreich, England und die USA schließlich nach Israel, wo er große Popularität erlangte.

Die Gesprächspartnerin: Efrat Gal-Ed (Köln) lehrt moderne jidische Literatur an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; sie übersetzte die Lyrik Itzik Mangers aus dem Jiddischen ins Deutsche: Dunkelgold (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2004/2016); sie ist Autorin der weltweit ersten kritischen Monographie über Itzik Manger: Niemandssprache (Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2016).

Arnold Słucki

Das dritte Gespräch stellte Leben und Werk Arnold Słuckis (Aron Krajner, 1920–1972) vor. Słucki, ein auch in Polen wieder zu entdeckender erstrangiger Lyriker und Übersetzer aus dem Jiddischen, überlebte die Shoah in der Sowjetunion. 1968 wurde er zur Emigration aus der Volksrepublik Polen gezwungen und gelangte über Israel schließlich in die BRD. Er starb im Exil in West-Berlin. Seine letzte Gedichtsammlung – „Im Epizentrum“ – stellt ein bedrückendes poetisches Protokoll der westdeutschen Emigrationserfahrungen dar. Wichtiger Bestandteil dieses Gesprächs waren die Übersetzungen seiner Gedichte, die Elvira Grözinger angefertigt hat.

Die Gesprächspartnerin: Elvira Grözinger (Berlin) Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Komperatistik jüdischer Literaturen in mehreren Sprachen, sie lehrte Jiddische Sprache und Literatur an der Universität Potsdam und an der FU Berlin; umfangreiche Tätigkeit als Publizistin; sie veröffentlichte u.a. (als Autorin) Die schöne Jüdin: Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur (Philo Verlag, 2004) sowie (als Herausgeberin): Jüdische Weisheit: Gedanken, Sprüche, Geschichten (Reclam Stuttgart, 2010).

Inhaltliche Konzeption und Moderation:
Lothar Quinkenstein

Organisation und Durchführung:
Lothar Quinkenstein, Lisa Palmes (Übersetzerin), Marcin Piekoszewski (buch|bund), Martin Brand (Trialog e.V.)
Trialog e.V. Lisa Palmes logo_buchbund
Förderer und Partner:
Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, Deutsch-Polnisches Wissenschaftsstiftung
Der regierende Bürgermeister- Senatskanzlei - Kulturelle Angelegenheiten Stiftung deutsch-polnische Zusammenarbeit Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung