Res Polonica – Gespräche über Polen

27 Jahre nach dem Systemwandel sieht in Polen vieles anders aus: die Städte, in denen die Polen leben, die Fabriken, in denen sie arbeiten, die Straßen, über die sie fahren. Das sind die sichtbaren Effekte der Transformation nach 1989. Weniger offensichtlich aber ist, welche Art Gesellschaft sich infolge dieses Wandels herausgebildet hat.

Unsere Gespräche mit den eingeladenen Autorinnen und Autoren sollen Antworten auf diese Frage liefern. In ihren Büchern werden Geschichten über individuelle Alltagsbegebenheiten zu Reflexionen über den Zustand der Gesellschaft in Polen.

Metamorphosen – Irena Morawska & Jerzy MorawskiEin doppeltes Land – Ein doppeltes Land – Michał OlszewskiPolen in Großbritannien – Ewa WinnickaBauen, Planen, Wohnen – Filip SpringerWas heißt Glück? – Paweł ReszkaDie verschobene Landkarte – Przemysław CzaplińskiStadt ohne Gedächtnis – Marcin KąckiPolen und Ausländer – Marta MazuśMuttersein in Polen – Natalia FiedorczukBetrojerinki – Pflegerinnen aus Polen – Anna Wiatr

Metamorphosen – Irena Morawska & Jerzy Morawski

[Morawska], heute bekannte Dokumentarfilmerin, gehörte in den 90er Jahren zu den Reporterinnen mit der charakteristischsten Handschrift. 1990 begann sie für die eben neu entstandene ,Gazeta Wyborcza‘ zu arbeiten […]. Morawskas Buch – Es war die Hölle, jetzt kommt der Himmel – enthält eine Sammlung ihrer besten Texte. Heute lässt es sich als historisches Buch über ein Land lesen, über das unversehens der Kapitalismus kam. […] Irena Morawska und ihr Mann Jerzy Morawski sind seit vielen Jahren als Filmschaffende tätig; auf ihr Konto gehen mehrere Dokumentarfilme und -serien, die von polnischen Kritikern als die besten ihrer Art angesehen werden. Für ihr gemeinsames Schaffen wurden die beiden mit dem Dariusz-Fikus-Journalistenpreis ausgezeichnet. [Verlag Dowody na Istnienie]

Ein doppeltes Land – Michał Olszewski

Polen ist in den Reportagen Michał Olszewskis ein doppeltes Land: unter der Oberfläche einer kleinen Stabilisierung und des alltäglichen Lebens finden hochdramatische Ereignisse statt. Sei es der Selbstmord eines Ministranten in den Karpaten, der von einem Priester missbraucht wurde. Oder der Kampf einiger Bewohner mit einem Hydrotechnik-Großinvestore n. Polen ist in den Reportagen Olszewskis ein Land, dessen Erinnerung an den Krieg und seine letzten Zeitzeugen immer groteskere Formen annimmt. Das in den Reportagen Olszewskis beschriebene Polen würden wir am liebsten schnell vergessen. Die schmerzhaften und doch mit sparsamen Tönen geschriebenen Texte lassen dies, zum Glück, nicht zu.

Polen in Großbritannien – Ewa Winnicka

Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind in den letzten Jahrzehnten über 700.000 Polen nach Großbritannien emigriert. Manchmal wird auch von einer oder sogar zwei Millionen gesprochen. Ewa Winnicka ist durch Großbritannien gereist und hat jenen aus sämtlichen Gesellschaftsschichten stammenden ,Eindringlingenʻ das Wort übergeben, indem sie polnische Intellektuelle, Arbeiter, Kleinunternehmer, Studenten und Obdachlose fragte, wie sie das Land sehen, in das sie gekommen sind. Angole malt außerdem ein vielschichtiges Bild der ,Einheimischenʻ – der Bürger Großbritanniens –, in dem sich Hoffnung und Enttäuschung, Bewunderung und Geringschätzung, Erfolg und Misserfolg der polnischen ,Kolonisatorenʻ mischen. (Czarne Verlag)

Ewa Winnicka, „Polityka“-Journalistin, die auch in „Tygodnik Powszechny“, „Gazeta Wyborcza“ und der italienischen Zeitschrift „Internazionale“ publiziert. Zwei Mal erhielt sie den Grand-Press-Journalistenpreis für Texte zu gesellschaftlichen Themen, außerdem wurde sie mit den „Okulary Równości“ ausgezeichnet – der „Gleichheitsbrille“ –, einem Preis, der für den Kampf gegen Ausschluss und Ungleichheit verliehen wird. 2014 erschien ihr Buch „Angole“, eine Sammlung von Reportagen über polnische Immigranten in Großbritannien.

Bauen, Planen, Wohnen – Filip Springer

Für sein neuestes Buch hat Filip Springer ganz Polen bereist, um das heutige Leben in den Städten, die bei der Verwaltungsreform von 1999 ihren Status als Woiwodschaftshauptstädte verloren haben, einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Dabei erfuhr er manches über deren Geschichte, führte Gespräche mit Einwohnern, traf die verschiedensten Menschen – Unternehmer, Künstler, politische Aktivisten, Lehrer –, ging in Werkstätten und Cafés, sah sich verfallene Fabriken und florierende Firmen an. Er fragte seine Gesprächspartner, worauf sie stolz sind in ihrer Stadt, worüber sie sich freuen, was sie ändern würden. Das Buch enthüllt ein uneindeutiges, schwer greifbares Bild von Polen – einem Polen, wo alles möglich ist und nichts sich so verhält, wie es scheinen möchte. Einige der Sorgen und Hoffnungen, die Springers Befragte äußerten, sind allen Menschen in Polen gemeinsam – ob sie nun in Klein- oder in Großstädten leben. (Karakter Verlag)

Filip Springer: Reporter und Fotograf, Autor mehrerer Bücher zum Thema Raum und Architektur. Stipendiat des polnischen Nationalen Kulturzentrums und der Ryszard Kapuścińskis literarischem Gedenken gewidmeten „Herodot“-Stiftung. Springer war mehrmals für die bedeutendsten Literaturpreise Polens nominiert. Seine Bücher sind bereits ins Englische, Deutsche, Russische und Ungarische übersetzt worden.

Was heißt Glück? – Paweł Reszka

Was heißt Glück? Paweł Piotr Reszka hat versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. In zwölf Reportagen erzählt er u.a. von einer Jungfrau, die sich von Jesus hat verführen lassen, von einer totalen Sexsperre in Lublin, von verschämten Gerechten, von heimlichen Organspendern, vom Teufel beim Nachmittagsunterricht, von einer Umgewöhnung von homo nach hetero … Ein Polen voller Wunder, doch durch und durch real.

Paweł Piotr Reszka (1977): Journalist bei der Lubliner Gazeta Wyborcza. Er war zweimal in der Kategorie Pressereportage für den Grand-Press- Journalismuspreis nominiert. Für sein Buch „Der Teufel und die Tafel Schokolade“ erhielt er 2016 den Kapuściński- Preis.

Die verschobene Landkarte – Przemysław Czapliński

 „Przemysław Czapliński, einer der derzeit angesehensten polnischen Literatur- und Kulturkenner, unternimmt eine Reise durch ganz Polen und versucht Antwort auf diese und viele andere komplexe Fragen zu geben. Auf seinem Weg analysiert er Literatur – in erster Linie die polnische, aber auch vieles aus dem schrifttum unserer Nachbarländer, aus der Kunst. Dabei bezieht er sich auf bedeutende Werke, die Einfluss auf die Wahrnehmung der Geografie einer Region genommen haben, und zeigt, wie unterschiedlich polnische Autoren über unsere Nachbarn schreiben. Weil er unsere Wahrnehmung anderer zu verstehen versucht, erfahren wir ​in ​seinem Buch​ in erster Linie etwas über uns selbst.“ (Wydawnictwo Literackie)

Textauszug: Eine verspätete Moderne (dt.)

Prof. Przemysław Czapliński (geb. 1962), einer der wichtigsten zeitgenössischen Literaturkritiker in Polen, Dozent an der Adam-Mickiewicz-Universitä t in Poznań. Für seine Werke wurde er bereits mit dem Kościelski-Preis und dem Kazimierz-Wyka-Preis ausgezeichnet.

Stadt ohne Gedächtnis – Marcin Kącki

Białystok. ​Einem Ranking des „Guardian“ zufolge lebt es sich hier besser als in jeder anderen polnischen Stadt, und besser sogar als in Wien oder Barcelona. In Podlasien lebten einst Polen, Ukrainer, Belarussen, Juden und Tataren nebeneinander. Hier wurde die Sprache Esperanto entwickelt, hier kam das erste in-vitro gezeugte polnische Kind zur Welt. Wie ist es dazu gekommen, dass in den Medien hauptsächlich von brennenden Wohnungen, Hakenkreuzen an Mauern, Antisemitismus, Rassismus und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Fußball-Hooligans berichtet wird?

Marcin Kącki ​sucht nach den Spuren ermordeter Nachbarn, besieht sich die blutende Hostie von Sokółka, liest Gedenktafeln und staatsanwaltliche Akten, führt Gespräche mit ehrenamtlich engagierten Menschen, Vertretern von Behörden und Kirche, Bewohnern von Dörfern und Hochhaussiedlungen, jungen Neofaschisten. ​Aus diesem vielstimmigen Chor schält sich die Geschichte einer „Stadt ohne Gedächtnis“ heraus. ​

Textauszug: Białystok. Das Treppenhaus (dt.)

​​Marcin Kącki: Kinder des Holocaust. Erinnerungskultur in Polen (taz)

​​Marcin Kącki (geb. 1976) – Reporter, Redakteur des Reportage-Magazins der Gazeta Wyborcza, „Duży Format“, spezialisiert auf die Themen Gesellschafts- und Geschichtsreportage. Kącki wurde 2007 beim Grand-Press-Journalistenwettbewerb mit dem Titel „Journalist des Jahres“ ausgezeichnet, erhielt zwei Mal den „Watergate“-Preis der Polnischen Journalistenvereinigung sowie den Grand-Press-Preis in der Kategorie „Investigativer Journalismus“.

Polen und Ausländer – Marta Mazuś

Eine hoch gebildete Ukrainerin putzt auf dem polnischem Markt, ein Türke führt Döner Kebab in Polen ein und serviert ihn seinen Gästen zuliebe mit Weißkohl, tschetschenische und polnische Kinder drücken auf dem Dorf gemeinsam die Schulbank, eine Albanerin tritt in ein katholisches Kloster ein, Chinesen machen das Geschäft ihres Lebens. Geschichten von Zufall und Zusammenprall, in denen Angeeignetes auf Unbekanntes trifft. Offenheit gepaart mit Unverständnis, Sympathie durchsetzt von Überheblichkeit, Ablehnung, die als politisch korrektes Gezwitscher oder Hasstiraden im Internet daherkommt. Polen und Ausländer starren einander an, manchmal ohne sich zu sehen, leben neben-, aber nicht immer miteinander.

„Król kebabów“ (2015) [Der Kebabkönig] von Marta Mazuś ist ein hochaktuelles Buch, das Fragen zu Polen und „den Anderen“ aufwirft. Ein Buch, das nach „dem Polnischen“ und „dem Europäischen“ fragt. Das sich Polen genau besieht und belauscht – ein Land zwischen dem Streben nach Modernität einerseits und Komplexbeladenheit, Xenophobie und stereotyper Weltsicht andererseits. Und das damit ein sehr komplexes und wahres Bild Polens präsentiert: eines irritierenden, rückständigen, zugleich aber farbenfrohen, interessanten, widersprüchlichen Polen.

Textauszug: Der Kebab-König. Tschetschenische Lektion (dt.)

Marta Mazuś (geb. 1987), Soziologin, Reporterin für die Zeitschrift „Polityka“. Sie schrieb über die Realität von Flüchtlingen in vielen europäischen Ländern, darunter Bosnien, Frankreich, Großbritannien.

Muttersein in Polen – Natalia Fiedorczuk

In ihrer fesselnden und schnörkellosen Erzählung holt Natalia Fiedorczuk Fragen über das Elterndasein ans Tageslicht, die wir uns selbst nicht zu stellen wagen. Gibt es bessere und schlechtere Mütter? Wer entscheidet das? Dennoch befasst sich dieses Buch nicht nur damit, wie es ist, zu Eltern zu werden, sondern bietet auch einen Rundumblick. Es liefert ein Porträt Polens, seiner Vorstädte, der täglichen Verrichtungen und Verpflichtungen, die sich aus dem Erwachsensein ergeben – und die so gewöhnlich und langweilig daherkommen, dass wir ihnen ​meist jede Bedeutung absprechen.

Textauszug: Wie man Einkaufszentren liebgewinnt (dt.)

Natalia Fiedorczuk (geb. 1984) ist ausgebildete Psychopädagogin, Komponistin, Vokalistin und Publizistin. Sie arbeitet als Kulturanimateurin, leitet zu bürgerlichem Engagement in lokalen Gemeinschaften an. Publizistisch befasst sich sich mit den Themen Musik, Internet, Ästhetik, Wohnungswesen. ​Jak pokochać centra handlowe [Wie man Shoppingcenter liebgewinnt] ist ihr Prosadebüt.

Betrojerinki – Pflegerinnen aus Polen – Anna Wiatr

Um eine polnische Pflegerin in Deutschland zu werden, braucht man keine Qualifikationen. Man muss einfach nur loslegen. Was man in Deutschland braucht, sind Geduld, die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, und ein Laptop mit Skype. Nach zwei Monaten kann man dann um die 10.000 Złoty mit nach Hause nehmen und – vielleicht – die Frage, was einen noch in Polen hält.

Wer sich aber kaum vorstellen kann, sieben Tage die Woche, 22 Stunden am Tag für alte kranke Menschen auf Abruf stehen zu müssen, der sollte diese Reportage lesen.

„Betrojerinki“ [Betreuerinnen] ist nicht bloß eine Geschichte über die Arbeit, die Tausende Polinnen im Auftrag ihrer westlichen Nachbarn verrichten, sondern auch eine Geschichte über den polnischen Staat, der ihnen kein Leben in Würde garantieren kann.“

Textauszug: Betrojerinki [Betreuerinnen] (dt.)

Anna Wiatr – ​Soziologin, Journalistin und Bloggerin. Absolventin der Universitä Wrocław, Doktor der Geisteswissenschaften, Spezialistin für Biografieforschung. In ihrer Doktorarbeit mit dem Titel Zwischen Leben und Tod: Identität und Sterben im Polen der Spätmoderne (2009) verarbeitete sie ihre Gespräche mit HospizpatientInnen und BewohnerInnen von staatlichen Altenpflegeheimen. Wiatr ist Autorin einer Reihe von Reportagen über Menschen mit Behinderung, die auf dem Internetportal pion.pl veröffentlicht wurden. Ihre narrative Interviewtechnik lernte sie bei Prof. Fritz Schütze an der Otto-von-Guericke-Universi tät in Magdeburg. „Betrojerinki“ (Krytyka Polityczna, 2017) ist ihre drittes Buch.

Inhaltliche Konzeption und Moderation:
Marcin Piekoszewski (buch|bund)

Organisation und Durchführung:
Marcin Piekoszewski (buch|bund), Lisa Palmes (Übersetzerin),  Martin Brand (Trialog e.V.)
Trialog e.V. Lisa Palmes logo_buchbund
Förderer und Partner:
Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit
Der regierende Bürgermeister- Senatskanzlei - Kulturelle Angelegenheiten Stiftung deutsch-polnische Zusammenarbeit