Biografien!
Bücher über sechs Persönlichkeiten und sechs Gespräche mit einigen der bekanntesten polnischen GegenwartsautorInnen. Wir haben nicht nur über das Werk und Leben der Protagonisten gesprochen, sondern auch die Vielfältigkeit der literarischen Gattung selbst betrachtet. Dabei rückten wir in Deutschland wenig bekannte Personen wie Stefan und Franciszka Themerson ebenso in den Fokus wie solche, die vorrangig als Namen auf Buchcovern existieren, z.B. Wisława Szymborska.
Singer. Landschaften der ErinnerungMałgorzata Szejnert:
Das Heim der Schildkröte. SansibarAdriana Prodeus:
Die Themersons. Biographische SkizzenArtur Domosławski:
Kapuściński non-fictionAnna Bikont / Joanna Szczęsna:
Erinnerungskram. Die Biografie Wisława SzymborskasKazimiera Szczuka / Magdalena Marszałek:
Maria Janion
Agata Tuszyńska: Singer. Landschaften der Erinnerung
Agata Tuszyńska, eine der bekanntesten polnischen Biografinnen der Gegenwart, stellte im Gespräch mit Marcin Piekoszewski und Lothar Quinkenstein ihre Biografie des Schriftstellers und Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer vor: Singer. Landschaften der Erinnerung (Singer. Pejzaże pamięci).
Das Buch: „Agata Tuszyńska hat eine mutige und ganz neue Biografie verfasst, ohne sich auf altbekannte Meinungen und Stereotype zu berufen. Diese Geschichte ist nicht nur die Lebensgeschichte des jüdischen Schriftstellers, sondern auch eine Geschichte über Polen, das Land, mit dem er sich zeit seines Lebens verbunden fühlte. Isaac Bashevis Singer wurde 1902 in Leoncin bei Warschau geboren und starb 1991 in Miami Beach / Florida. Er verließ Polen 1935 und kehrte nie dorthin zurück. Dennoch hörte er nie auf, über sein Heimatland zu schreiben. Er schrieb auf Jiddisch, der Sprache seiner Vorfahren, der Sprache der Geister und Dämonen. 1978 erhielt Singer den Literaturnobelpreis“ (Quelle: Wydawnictwo Literackie).
Die Autorin: Agata Tuszyńska, geb. 1957 in Warschau, ist Schriftstellerin, Lyrikerin und Journalistin. Die Materialien für ihre Biografie von Isaac Bashevis Singer trug Tuszyńska in den USA, Israel, Frankreich und der polnischen Provinz zusammen. Erstmals erschien Pejzaże pamięci 1994 in Polen und wurde viele Male neu aufgelegt; die überarbeitete und erweiterte Auflage erschien 2011. In den USA und Frankreich sind bereits Übersetzungen des Buches erschienen. Weitere wichtige Werke der Autorin: Rodzinna historia lęku (Eine Familiengeschichte der Angst; 200) / Die Sängerin aus dem Ghetto. Das Leben der Wiera Gran (auf Deutsch erschienen 2013).
Textauszug: Singer. Landschaften der Erinnerung
Małgorzata Szejnert: Das Heim der Schildkröte. Sansibar
Lisa Palmes und Marcin Piekoszewski stellten im Gespräch mit Małgorzata Szejnert deren Werk „Das Heim der Schildkröte. Sansibar“ (Dom żółwia. Zanzibar) vor. Sie diskutierten das Buch als „Biografie eines Ortes“.
Das Buch: Małgorzata Szejnert erzählt die sansibarische Geschichte der vergangenen 170 Jahre – eine Zeitspanne, so lang wie das Leben der heimischen Grünen Meereschildkröte. Die Geschichte der Insel setzt sich hier aus den Lebensgeschichten einiger ihrer interessantesten Bewohner zusammen, wie z.B. der Forscher und Missionare David Livingstone, Henry Morton Stanley und Richard Burton, der Sultanstochter Salme, Prinzessin von Oman und Sansibar, die einen deutschen Kaufmann heiratete und später in Hamburg und Bydgoszcz lebte, des auf Sansibar geborenen, später als Freddie Mercury bekannten Farrokh Bulsara oder der 2013 verstorbenen taarab-Sängerin Bi Kidude, mit der die Autorin noch persönlich sprach.
Szejnerts Schilderungen und die zahlreichen Fotografien lassen vor dem Auge des Lesers ein lebendiges Bild der Insel früher und heute entstehen – dieses Ortes, an dem die Geschichte Afrikas, des Orients und Europas zusammenfließen. Dabei spart die Autorin auch die Rolle der europäischen Inselbewohner nicht aus und weist auf eine neue Art der „Kolonialisierung“ hin – die Aneignung durch Tourismus und große Hotelketten (Quelle: znak.com.pl).
Die Autorin: Małgorzata Szejnert ist Journalistin, Mitbegründerin der „Gazeta Wyborcza”, wo sie fast 15 Jahre lang das Reportage-Ressort leitete, sowie Beraterin und Mentorin der bekanntesten polnischen Reporter der jüngeren Generation. Ihre zuletzt erschienenen Bücher sind die Schlesien-Reportage „Czarny ogród“ [Der Schwarze Garten; 2007], die Reportage über Ellis Island „Wyspa klucz“ [Die Schlüssel-Insel; 2009], „Dom żółwia. Zanzibar“ sowie eine Reportagensammlung über das Polen der 1970er Jahre mit dem Titel „My, właściciele Teksasu“ [Wir, die Besitzer von Texas; 2013].
Textauszug: Sansibar – Biografie eines Ortes
Adriana Prodeus: Die Themersons. Biographische Skizzen
Marcin Piekoszewski und Michael Zgodzay sprachen mit Adriana Prodeus über ihre Biografie des polnisch-britischen Avantgardekünstlerpaars Stefan und Franciszka Themerson.
Das Buch: Die Kunst der Themersons fordert unsere Gewohnheiten und gängigen Überzeugungen vom Sinnzusammenhang der Welt heraus. Das in Polen geborene Künstlerpaar stieg in die avantgardistische Elite des 20. Jahrhunderts auf, obwohl die Werke der beiden sich jeder Klassifikation entziehen und zu einem einzigartigen Duett verflechten. Franciszka Themerson (1907-1988) beschäftigte sich mit Zeichnung und Malerei, illustrierte Bücher und entwarf Bühnenbilder. Stefan Themerson (1910-1988) schrieb Romane, Erzählungen, philosophische Essays, Kinderbücher, entwickelte eine „semantische Poesie“ und eine „semantische Oper“. In der Zwischenkriegszeit drehten die Themersons in Warschau gemeinsam experimentelle Filme; in London leiteten sie den Verlag Gaberbocchus-Press, in dem sie „Bestlookers“ mit origineller Bildgestaltung herausgaben.
Adriana Prodeus‘ Buch „Die Themersons“ lässt sich als emotionale Essayistik bezeichnen. Einerseits wird das begeisterte, sinnliche Vergnügen spürbar, das die Beschäftigung mit dem Genie dieses Künstlerpaars der Autorin bereitet; andererseits verliert sie nie die forscherische Genauigkeit. Frei von Schubladendenken oder Vorurteilen beschreibt sie das Werk der beiden Künstler vor dem Hintergrund der Moderne und führt den Leser in die Welt ihres einander durchdringenden Schaffens ein, bringt ihm auf transparente Weise ihre unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche näher, die bis dahin hauptsächlich aus schwer zugänglichen, vereinzelten Publikationen bekannt waren.
Die Autorin: Adriana Prodeus, Kunsthistorikerin, Kulturanimateurin, Fulbright-Stipendiatin an der Tisch School of the Arts in New York. Sie schreibt über Kunst und Film und befasst sich mit der Avantgarde in interdisziplinärer Perspektive. Prodeus ist Mitherausgeberin eines Buches über die Animationsfilme der Quay Brothers und Autorin der Biographie von Stefan und Franciszka Themerson: Themersonowie. Szkice biograficzne (Warschau 2009).
Textauszug: Ein Avantgarde-Paar aus Polen
Artur Domosławski: Kapuściński non-fiction
Arkadiusz Luba sprach mit Artur Domosławski, dessen Biografie von Ryszard Kapuściński nach ihrem Erscheinen in Polen 2010 für einige Kontroversen sorgte. Im Jahr 2014 ist sie in deutscher Übersetzung erschienen.
Das Buch: Bereits zu Lebzeiten genoss Ryszard Kapuściński (1932–2007) den Ruf eines »Jahrhundertreporters«, und auch sechs Jahre nach seinem Tod gilt er immer noch als der meistgelesene Autor Polens.
Seine Bücher – darunter »Schah-in-Schah« über die Revolution im Iran, »Fußballkrieg« über El Salvador und Honduras und »Imperium« über den Untergang der Sowjetunion – wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Begegnungen mit Che Guevara oder dem kongolesischen Rebellen Patrice Lumumba ebneten seinen Ruhm, aber viele dieser Begebenheiten hatte er, wie Artur Domosławski in seiner vieldiskutierten Biographie eindrucksvoll nachweist, frei erfunden.
Aber nicht nur die Arbeitsweise dieses Wegbereiters der modernen Reportage verdeutlicht Domosławski in seinem Buch, er zeigt auch, dass Kapuściński nicht nur ein genialer Autor, sondern auch ein genialer Selbstvermarkter war. In Polen hat das Buch mit seinen zahlreichen kritischen Anmerkungen eine große Debatte über Kapuściński ausgelöst, aber ebenso hat es dazu beigetragen, ihn und sein Werk wieder zu neuem Leben zu erwecken.
Der einstige Schüler und Freund Kapusciński hat ein kluges, sehr persönliches und lehrreiches Buch über den »besten Reporter der Welt« geschrieben, das uns die ganze Bandbreite seines Könnens vor Augen führt.
Der Autor: Artur Domosławski ist Reporter, Journalist bei der Zeitschrift „Polityka“ und Autor mehrerer Reportagebände über Südamerika. 2010 erschien seine Kapuściński-Biografie in Polen und rief dort heftige Debatten über Kapuściński, die Gattung der Biografie an sich und ihre Grenzen hervor.
Auf Deutsch erschienen: Artur Domoslawski Ryszard Kapuscinski Leben und Wahrheit eines »Jahrhundertreporters«. Übersetzt von Antje Ritter-Jasińska und Benjamin Voelkel. Rotbuch-Verlag, Berlin, 2014.
Anna Bikont / Joanna Szczęsna: Erinnerungskram. Die Biografie Wisława Szymborskas
Marcin Piekoszewski und Lisa Palmes sprachen mit Anna Bikont und Joanna Szczęsna, die ihre überarbeitete und erweiterte Biografie der Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska vorstellten.
Das Buch: „Erinnerungskram” (poln. Pamiątkowe rupiecie) ist die erste vollständige Biografie von Wisława Szymborska. Die polnische Nobelpreisträgerin war für ihre Bescheidenheit bekannt – sehr selten erzählte sie von ihrem Privatleben und konsequent vermied sie Interviews mit Journalisten. Den beiden Autorinnen, Anna Bikont und Joanna Szczęsna, gelang es trotzdem, Szymborska zu einem Treffen zu überreden, aus dem ein langes und unglaublich persönliches Gespräch entstanden ist, das viele bislang unbekannte Fakten und Einzelheiten zum Vorschein bringt. In zahlreichen Gesprächen äußert sich Szymborska zu eigenen Lebens- und Schaffensphasen – natürlich auf ihre schlagfertige und unvergleichliche Art und Weise. Im Buch findet man auch Erinnerungen von Szymborskas engsten Freunden, Interpretationen ihrer Poesie und Feuilletons sowie bisher unveröffentlichte Photographien. Bikont und Szczęsna haben ein Werk voller Anekdoten, Gedichten und amüsanten Reise- und Freundschaftsbeschreibunge
Die Autorinnen: Anna Bikont (geb. 1954) ist Psychologin, Reporterin und Schriftstellerin. Bikont ist eine der Mitbegründerinnen des „Tygodnik Mazowsze“, einer Untergrundzeitschrift der Solidarność, die sie vom ersten Erscheinen 1982 bis zur Einstellung 1989 leitete, und der „Gazeta Wyborcza“, bei der sie bis heute tätig ist. Zuletzt erschien von ihr, in Zusammenarbeit mit Joanna Szczęsna, eine Biographie von Wisława Szymborska: Pamiątkowe rupiecie (Erinnerungskram, 2012). Die französische Ausgabe ihres Buches My z Jedwabnego (Wir aus Jedwabne; 1. Aufl. 2004, 2. Aufl. 2012) wurde 2011 mit dem European Book Prize ausgezeichnet.
Joanna Szczęsna (geb. 1949) ist Journalistin, Reporterin und Schriftstellerin. 1976 absolvierte sie ihr Studium der Polonistik an der Universität in Łódź. Szczęsna engagierte sich als Aktivistin in der polnischen Untergrundbewegung, nahm an zahlreichen Protestaktionen teil und arbeitete mit dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (poln. KOR) zusammen. Bis 1989 publizierte sie in der Untergrundzeitschrift der Solidarność „Tygodnik Mazowsze“, danach in der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Zusammen mit Anna Bikont verfasste sie u.a. ein Buch über polnische Schriftsteller im Kommunismus „Lawina i kamienie. Pisarze wobec komunizmu“ (2006) und eine Biographie von Wisława Szymborska „Pamiątkowe rupiecie“ (2012).
Textauszug: Erinnerungskram. Die Biografie Wislawa Szymborskas
Kazimiera Szczuka / Magdalena Marszałek: Maria Janion
Anlässlich des Erscheinens der ersten deutschsprachigen Ausgabe der Studien von Maria Janions sprach Marcin Piekoszewski mit Kazimiera Szczuka und Magdalena Marszałek über das Lebenswerk der Literaturwissenschaftlerin.
Das Buch: „Maria Janion, Literaturwissenschaftlerin und namhafte Romantikforscherin, ist eine der unumstrittenen intellektuellen Autoritäten in Polen. Sie hat sich stets in politische Debatten eingemischt und in den letzten Jahren ihre Prominenz dazu genutzt, die Frauenbewegung und die wiedererwachte Neue Linke zu unterstützen. (…)
Im Zentrum ihres Werkes steht der Begiff der krytyka fantasmatyczna, die Befragung von Literatur, Film und Kunst auf ihre imaginären Potenziale hin, auf bewusste und unbewusste kulturelle Vorstellungen, Selbst- und Fremdbilder, die in den ästhetischen Gebilden wirksam sind. Ein bedeutendes romantisches Phantasma ist der Vampir als Doppelgänger und Schatten, als »Symbolfigur für die Transgression zum Bösen«. Maria Janions kritische Studien zu Bildern des Weiblichen oder zum „unheimlichen Slawentum“ als dem Unterbewussten der europäischen Kultur provozieren nationalkonservative Kreise bis heute. Was es für die Polen bedeutet, dass ihr Land Schauplatz des Holocaust war, ist eines der großen Themen ihres Spätwerks. Mit ihrem Ruf »Nach Europa, ja! Aber nur zusammen mit unseren Toten« fordert sie, im Anschluss an Adam Mickiewicz’ »Ahnenfeier« und Imre Kertész’ Rede vom »Holocaust als Kultur«, eine Kultur des Trauerns und Erinnerns.“
Die Autorinnen: Kazimiera Szczuka, geboren 1966, Literaturforscherin, Publizistin, Autorin, feministische Aktivistin und Mitglied der Krytyka Polityczna. Während ihres Studiums der Literaturwissenschaften an der Universität Warschau war sie Schülerin Maria Janions. Ihre Beiträge erscheinen in den größten polnischen Tages- und Wochenzeitungen und -magazinen, zudem arbeitet sie als Journalistin für das polnische Fernsehen. Sie ist eine der Gründerinnen der grünen Partei Polens (Zieloni 2004). Zuletzt von ihr erschienen: „Janion. Transe – traumy – transgresje. 1: Niedobre dziecię“. Am 21.11.2014 erscheint der zweite Band im Verlag Krytyka Polityczna „Janion. Transe – Traumy – Transgresje. 2: Prof. MISIA“
Prof. Dr. Magdalena Marszałek, Studium der polnischen Philologie und Theaterwissenschaft in Krakau, Zweitstudium der Slavistik, Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Bochum. Bis 2011 Juniorprofessorin für Polnische Literatur am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin, seit März 2011 Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft / Schwerpunkt Polonistik am Institut für Slavistik der Universität Potsdam. Seit 2012 assoziiertes Mitglied des Instituts für Jüdische Studien der Universität Potsdam. Im April-Juni 2014 Visiting Researcher am Russian and East European Institute (REEI) der Indiana University, Bloomington.
Textauszug: „Vor dem Krieg wäre ich Schneiderin geworden“
Auf Deutsch erschienen: Magdalena Marszałek (Hg.): Die Polen und ihre Vampire – Studien zur Kritik der Phantasmen. Übersetzt von Bernhard Hartmann und Thomas Weiler. Suhrkamp, Berlin 2014.
Lisa Palmes (Übersetzerin), Marcin Piekoszewski (buch|bund)
Organisation und Durchführung: Lisa Palmes (Übersetzerin), Marcin Piekoszewski (buch|bund), Martin Brand (Trialog e.V.), Magdalena Ziomek-Frackowiak (agitPolska e.V.) |
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Förderer und Partner: Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, Polnisches Buchinstitut, Der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, ostpol |
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