Berliner Perspektiven: Neue Polnische Bücher im Gespräch
Viele polnische Bücher finden jedes Jahr ihren Weg auf den deutschen Buchmarkt, doch nicht alle erhalten in unserer schnelllebigen Zeit die gebührende Aufmerksamkeit. Grund genug, einige ihrer Autorinnen und Autoren in den buch|bund einzuladen, Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Berlin hinzuzubitten und Gedanken auszutauschen – über Gemeinsamkeiten in ihren Werken, unterschiedliche Perspektiven und historische Erfahrungen, literarische Phänomene und gesellschaftliche Veränderungen.
An sechs Abenden werden wir über Lyrik, literarische Reportagen und jüdisch-polnisch-ukrainisch-deutsche Familiengeschichten sprechen. Teil 1 unserer Reihe findet im Frühjahr 2019 statt, Teil 2 folgt im Herbst 2019.
Wann blühen die Akazien? Ein Gedicht und seine Autoren
Poetische Texte schaffen eigene Reflexionsräume, können die Zeit anhalten und einen „Augenblick von Freiheit“ (Hilde Domin) stiften. Die Lesung der Autoren Tomasz Różycki und Lothar Quinkenstein nehmen wir zum Anlass, über die Rolle der Lyrik heute zu sprechen, die Kunst des sprachlichen Bildes und das Territorium der poetischen Wahrnehmung.
Moderation: Dorota Stroińska
7.3. 2019 | 19:30 Uhr | Eintritt frei | Das Gespräch findet auf Deutsch und Polnisch statt und wird simultan gedolmetscht.
Tomasz Różycki (geb. 1970 in Opole) ist Dichter, Essayist, Übersetzer französischer Lyrik. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem renommierten Preis der Genfer Kościelski-Stiftung (2004), dem Josif Brodski-Preis (2006) oder Arts & Literary Prize 3 Quarks Daily (2010). Różyckis Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen „Dwanaście stacji“ (2004) / „Zwölf Stationen. Poem“, Luchterhand München 2009 [Ü: Olaf Kühl], der Roman „Bestiarium“ (2012) / „Bestiarium. Roman„, edition.fotoTAPETA, Berlin, 2016, [Ü: Marlena Breuer] und „Der Kerl, der sich die Welt gekauft hat. Gedichte„, edition.fotoTAPETA Berlin, 2018, [Ü: Bernhard Hartmann] – eine Auswahl aus sieben Gedichtbänden, die zwischen 1997 und 2016 in Polen erschienen sind.
Lothar Quinkenstein (geb. 1967 in Bayreuth) ist Literaturwissenschaftler, Lyriker, Autor von Prosa und literaturwissenschaftlichen Artikeln, Übersetzer aus dem Polnischen. Zuletzt erschien von ihm der Kurzroman „Die Deckelmacher. Ein Bilderbogen„. Er veröffentlichte drei Gedichtbände, zuletzt mitteleuropäische zeit. Gedichte. Lyrikedition 2000, München 2016 und gegenort. Gedichte. Lyrikedition 2000, München 2013. Er erhielt zahlreiche Stipendien und wurde 2017 mit dem Jablonowski-Preis für seine Verdienste auf dem Gebiet des deutsch-polnischen Kulturaustauschs und dem Spiegelungen-Preis für Lyrik ausgezeichnet.
Dorota Stroińska ist Literaturübersetzerin aus dem Deutschen ins Polnische (u.a. Karl Jaspers, Rüdiger Safranski, Lutz Seiler, Christian Kracht, Sibylle Lewitscharoff, Ilse Aichinger). Ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis des polnischen Übersetzerverbandes (1998). Finalistin des Mitteleuropäischen Literaturpreises ANGELUS (2018). Leiterin der Deutsch-Polnischen Übersetzerwerkstatt ViceVersa, Gründerin und Koordinatorin des deutsch-polnischen Übersetzerstammtisches „sztamtysz“ in Berlin. Regelmäßige Moderationen, Seminare, Veranstaltungen und Lesungen für erwachsene und junge Leser.
Straße 816: Michał Książek & Esther Kinsky
17.05.2019 | 19:00 Uhr | Polnisch & Deutsch | Eintritt frei
„An der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine schlängelt sich die Straße 816 durch die unberührte Flusslandschaft des Bugs. […] Die wenigen Menschen, die Michał Książek trifft, haben das Leben gesehen, sie tragen die Erinnerungen in sich, ob jung oder alt. Seit Jahrhunderten ist dies ein Grenzgebiet verschiedener Ethnien, Konfessionen und Kulturen. Katholische Polen, orthodoxe Ukrainer, deutsche Vernichtungslager, Sobibór lag gleich an der 816, und auch Treblinka war nicht weit weg. […] »Straße 816« ist ein Buch über das Schauen, Riechen und Hören.“ (S.Fischer Verlag)
Michal Ksiazek, geb. 1978, ist Kulturwissenschaftler, Ornithologe, er schreibt Reportagen und Gedichte. Sein Buch »Jakutien, Wörterbuch eines Ortes« (2013) war für den Gdynia-Preis nominiert, sein Gedichtband »Wissenschaft von den Vögeln« (2014) wurde mit dem Silesius-Preis für Lyrik ausgezeichnet, und für seine Reisereportage »Straße 816« (2015) erhielt er im September 2016 den Gdynia-Preis in der Kategorie Essayistik. Ksiazek lebt in Warschau und im Urwald von Bialowieza.
Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet. Für Ihren zuletzt erschienen Geländeroman „Hain“ erhielt sie den Preis der Leipziger Buchmesse 2018.
Polen im Wachtraum?
Eine Diskussion mit Andrzej Leder und Ludger M. Hermanns über die Gegenwart der Vergangenheit. Moderation: Felix Ackermann.
Ausgangspunkt der Diskussion ist ein historischer Essay, in dem der Warschauer Kulturphilosoph Andrzej Leder den Kern der gesellschaftlichen Umwälzungen Ostmitteleuropas zwischen 1939 und 1956 analysiert: die Ermordung der polnischen Juden unter deutscher Besatzung sowie die Zerstörung des Landadels als Folge der nach 1945 aufgezwungenen sozialistischen Ordnung. Die deutsche Übersetzung von „Polen im Wachtraum“ wirft die Frage auf, wie sich Praktiken der Psychoanalyse von der Ebene des Einzelnen auf ganze Gesellschaften übertragen lassen. Welche Einsichten ermöglicht die polnische Debatte über das Nachwirken des Zweiten Weltkriegs heute in Berlin? In welchem Verhältnis stehen die psychoanalytischen Schulen in beiden Ländern? Und was können deutsche Leser heute über den eigenen Umgang mit der Vergangenheit lernen?
Andrzej Leder, Kulturphilosoph und praktizierender Psychotherapeut, Professor am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau.
Ludger M. Hermanns, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Mitbegründer des Archivs zur Geschichte der Psychoanalyse, Herausgeber des „Jahrbuchs der Psychoanalyse“ und der Reihe „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“.
Felix Ackermann, Kulturwissenschaftler, Stadtanthropologe und Historiker mit den Arbeitsschwerpunkten Migration, Gewalt und Stadtraum im östlichen Europa. Erforscht am Deutschen Historischen Institut Warschau die Geschichte des Gefängniswesens in Polen und Litauen.
Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand von Miron Bialoszewski
„Wenn er in Paris oder New York gelebt hätte, hätte niemand gefragt, mit wem er schlief, wann er aufstand und wie er sich anzog. Er lebte aber im sozialistischen Warschau. Seit seinem Rausschmiss aus der Redaktion von „Świat Młodych“ (Junge Welt) im Jahr 1951 war er nirgendwo mehr tätig. Er darbte bis 1956 und konnte sich manchmal nur eine Portion Reis in einer Milchbar leisten. Doch dann brach sein Schreiben aus. Er fand endlich seine Sprache, seinen eigenen Weg. Das war eine der glücklichsten Perioden seines Lebens.
Nach dem Erfolg von „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ 1970 hatte er zum ersten Mal in seinem Leben Geld, das er hauptsächlich für Schallplatten und teure Geschenke ausgab. In einer kommunalen Einzimmerwohnung, von der Hausverwaltung belästigt und regelmäßig von der Staatssicherheitsdienst verhört, führte er das Leben eines französischen Surrealisten oder New Yorker Beatniks. Ohne einen Schatten des Grolls gegen das Schicksal. Er wusste, dass er für seine Freiheit mit etwas bezahlen musste, und dass es kein Zurück mehr gab.“ Tadeusz Sobolewski
Über Miron Białoszewski – sein Leben, seine Stadt, seine Sprache und seine literarische Bedeutung – sprechen Tadeusz Sobolewski und Esther Kinsky.
Moderation: Marcin Piekoszewski
Tadeusz Sobolewski, Filmkritiker und Autor. Seit 1995 arbeitet er für die Gazeta Wyborcza. Er war ein langjähriger Freund von Miron Białoszewski. 2012 erschien sein (auto)biografisches Buch „Der Mensch Miron“.
- „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ aus dem Polnischen von Esther Kinsky
- „Geheime Tagebuch“ übersetzt von Dagmara Kraus
Esther Kinsky, Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnische, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie hat Miron Białoszewskis Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand zwei Mal ins Deutsche übertragen.
Familiengeschichten
„Bevor man noch mit der Arbeit an einer Familiengeschichte beginnt, stellt man sich als Autor die Frage, ob man sich das überhaupt antun soll? Wäre es oftmals nicht besser, jedenfalls für unser eigenes psychisches Gleichgewicht, manches auf sich beruhen zu lassen und mit Schweigen zu bedecken? Schließlich kann niemand von uns verlangen, dass wir alles ausgraben und schonungslos offenlegen, selbst die dunkelsten Flecken und Kapitel der Vergangenheit. Oder doch? Ist das unsere Pflicht?“ – Martin Pollack, aus dem Nachwort zu „Die Pfefferfälscher“.
Die Geschichte, die Monika Sznajderman aus Interviews, Briefen, Fotos und veröffentlichten Quellen in „Die Pfefferfälscher“ rekonstruiert, spricht mit seltener Eindringlichkeit von der Tragik des jahrhundertelangen polnisch-jüdischen Zusammenlebens, die nicht nur ihre Familie, sondern die ganze Gesellschaft bis heute nicht loslässt.
Brygida Helbig reproduziert weniger bekannte Zutaten der polnischen kulturellen Mischung. Aus der Sicht einer Migrantin, deren Eltern selbst Flüchtlinge und Umsiedler waren, erzählt die Protagonistin aus „Kleiner Himmel“ von der Suche nach den Wunden ihrer Wurzeln, eingebettet in die deutsch-polnische Geschichte.
Darüber, ob es unsere Pflicht ist, die eigene Familiengeschichte zu kennen, sprechen Monika Sznajderman und Brygida Helbig.
Moderation: Marcin Piekoszewski
Monika Sznajderman, geboren 1959 in Warschau, ist Kulturanthropologin, Verlegerin und Autorin. Seit 1996 leitet sie zusammen mit Andrzej Stasiuk den Verlag Czarne in Wolowiec/Südpolen. „Die Pfefferfälscher“ („Fałszerze pieprzu“, 2016) war 2017 auf der Shortlist des polnischen Literaturpreises Nike.
Brygida Helbig, geboren 1963 in Szczecin, ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin von Prosa, Dramatik und Lyrik. Seit 1983 lebt sie in Deutschland. Der Roman „Kleine Himmel“ („Niebko“, 2013) war 2014 auf der Shortlist des polnischen Literaturpreises Nike.
Ein Gespräch über Liebe und Polen
„Was?“
„Ihr habt eine Menge Bücher.“
„Ja.“
„Hast du die gelesen?“
„Manche schon.“
„Bestimmt über die Liebe. Jetzt sind manche meiner Texte über die Liebe, aber ehrlich jetzt? Lieber rede ich vom Leben, von den Problemen, von der Gesellschaft in Polen, mit der Liebe ist das so, mal ist sie da, mal weniger, schwer, darüber zu schreiben, schwer, bei der Wahrheit zu bleiben, denn jetzt mal unumwunden, ich hab diese Gefühl wahrscheinlich einfach nie empfunden…“
Dorota Masłowska und Olaf Kühl im Gespräch über Liebe und Polen.
Moderation: Marcin Piekoszewski
Dorota Masłowska wurde 1983 in Wejherowo, Polen, geboren. Ihr Debütroman „Schneeweiß und Russenrot“ wurde begeistert aufgenommen und in mehr als zehn Sprachen übersetzt; 2005 erhielt sie dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis. Es folgten die Romane „Die Reiherkönigin“ und „Liebling, ich habe die Katzen getötet“. Masłowska wurde mit den wichtigsten polnischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sie schreibt zudem Bühnenstücke, die auch in Deutschland aufgeführt werden. Ihr letztes Buch, „Andere Leute“, wurde von Olaf Kühl übersetzt und ist im Rowohlt Verlag 2019 erschienen.
Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitet seit 1996 als Osteuropareferent für den Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Sein dritter Roman, „Letztes Spiel Berlin“, erschien 2019 im Rowohlt Verlag.
Marcin Piekoszewski (buch|bund), Martin Brand (Trialog e.V.)
Organisation und Durchführung: Marcin Piekoszewski (buch|bund), Lisa Palmes (Übersetzerin), Martin Brand (Trialog e.V.) |
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Förderer und Partner: |
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